KOLLOQUIA Triesen
III. Problemschwerpunkte
Auf den ersten Blick scheint man mit diesem Prinzip offene Türen einzurennen, denn wer wollte noch ernsthaft dem Grundsatz widersprechen, dass Schlüsse vom Sein auf ein Sollen logisch unzulässig sind? So findet man etwa in der wissenschaftstheoretischen Literatur einzelner sozialwissenschaftlicher Disziplinen nicht selten das ausdrückliche Bekenntnis zum Verbot solcher naturalistischen Fehlschlüsse, sodass zunächst der Anschein entsteht, als würde man sich tatsächlich an diesen Grundsatz halten. Schaut man genauer hin, bietet sich jedoch ein wesentlich anderes und auch wesentlich komplizierteres Bild. Anknüpfungspunkt ist hier der Wirklichkeitsbegriff, der den Untersuchungsgegenstand der Sozialwissenschaften maßgeblich prägt. Oder besser gesagt: Der die Vorstellung von diesem Untersuchungsgegenstand ganz maßgeblich prägt, nämlich die Vorstellung von der sozialen Wirklichkeit. Die Sozialwissenschaften stehen offenbar auch heute noch unter dem Einfluss eines Wirklichkeitsbegriffs, der die Gesellschaft bzw. die historisch-soziale Wirklichkeit nicht (nur) als eine empirische Erscheinung, sondern (auch) als ein Wertsystem auffasst. Die Ursache für diese Abkehr vom kantischen Sein-Sollen-Dualismus liegt in der philosophischen bzw. wissenschaftstheoretischen Entwicklung vom 19. Jahrhundert bis heute. Schon der nachkantische Idealismus versucht, die soziale Wirklichkeit auf einen vernünftigen, „absoluten“ Urgrund zurückzuführen und dadurch Wirklichkeit und Wert zu vereinen. Unter diesen neuen wirklichkeitstheoretischen Vorzeichen liegt der Ursprung normativer Inhalte stets in der sozialen Welt, also im Sein. Die Antwort auf die Frage nach dem Wert ist jetzt unmittelbar in der historischen Entwicklung der Gesellschaft selbst zu suchen. Das gilt für das gesamte 19. Jahrhundert und damit insbesondere auch für den sogenannten Neukantianismus. Eine wissenschaftstheoretische Konsequenz aus diesem neuen Wirklichkeitsbegriff ist die – heute meist unkritisch als selbstverständlich akzeptierte – „geisteswissenschaftliche“ Interpretation der Sozialwissenschaften, insbesondere der für diese Interpretation charakteristische Versuch, den Erkenntnisgegenstand „Gesellschaft“ den Kausal- oder Naturwissenschaften zu entziehen. Mit dem neuen Wirklichkeitsbegriff ist somit die logische Trennlinie zwischen Sein und Sollen zumindest durchlöchert, was im Ergebnis nicht nur zu naturalistischen Fehlschlüssen führen kann, sondern auch zu einer methodischen Abschottung bzw. Autonomisierung gegenüber kausalwissenschaftlichen Erkenntnissen. Das sei kurz an einem Beispiel aus der Rechtswissenschaft erläutert, und zwar anhand des Begriffes „positives Recht“: Das faktisch geltende oder positive Recht ist – als menschengemachtes Recht – jedenfalls Bestandteil der historisch-sozialen Wirklichkeit und damit des Seins. Jedoch bezeichnet der Begriff „positives Recht“ seit dem historischen Rechtsdenken im 19. Jahrhundert bis heute nicht nur ein faktisch geltendes Recht, sondern vor allem auch ein Wertsystem, nämlich eine an sich objektiv verbindliche oder gültige Rechtsordnung. Der Begriff „positives Recht“ umfasst also nicht nur etwas Empirisches, sondern auch etwas Vernünftiges und damit Werthaltiges oder Sinnhaftes. Ganz ausdrücklich ist in diesem Zusammenhang die Rede von der „Eigenrationalität“ des positiven Rechts, das angeblich dazu in der Lage ist, gewissermaßen aus sich selbst heraus ein Rechtssystem, eine Rechtsordnung zu bilden. „Positives Recht“ bezeichnet somit ein Mischwesen aus Empirie und Philosophie. Ähnliches gilt für den Begriff der Rechtsquelle, dessen gültigkeitstheoretische bzw. philosophische Bedeutung Juristen meist nicht bewusst ist. Da „positives Recht“ aber, wie gesagt, auch etwas Vernünftiges und damit an sich objektiv Gültiges meint, bezeichnet „Rechtsquelle“ nicht nur einen Wirklichkeitsgegenstand (etwa ein Gesetzgebungsorgan), sondern auch ein Vernunftsubjekt, das als solches dazu in der Lage sein soll, nicht nur ein faktisch geltendes, sondern auch ein an sich objektiv verbindliches oder gültiges Recht zu erzeugen. In den Begriffen „positives Recht“ und „Rechtsquelle“ sind die Ebenen des Seins und des Sollens also keineswegs getrennt, sondern vielmehr eng miteinander verbunden. Der Begriff „positives Recht“ bezeichnet somit nicht nur eine empirische Erscheinung, sondern auch ein Wertsystem. Daraus wird dann die methodische Konsequenz gezogen, dass sich Aussagen über den Inhalt des (objektiv verbindlichen oder gültigen) Rechts nur im Wege einer analytischen Deskription des positiven Rechts erzielen lassen, gegebenenfalls unter Einsatz juristischer Auslegungsmethoden. Mit dieser – auch als „normwissenschaftlich“ bezeichneten – Methode erklärt sich die Rechtstheorie gegenüber empirischen Erkenntnissen, die etwa die Auswirkungen des Rechts auf die soziale Wirklichkeit betreffen, für autonom. Die methodische Abgrenzung gegenüber den Naturwissenschaften ist jedoch auf den Begriff eines vernünftigen oder „eigenrationalen“ positiven Rechts angewiesen, denn nur unter dieser Voraussetzung kann es möglich sein, durch die bloße Deskription positiven Rechts Aussagen über ein objektiv verbindliches Recht zu gewinnen. Mit anderen Worten: Die methodische Autonomisierung der Jurisprudenz gegenüber den Kausalwissenschaften beruht offenbar auf einem Sein-Sollen-Monismus. Dementsprechend hat der Wissenschaftstheoretiker Hans Albert darauf hingewiesen, dass die „normwissenschaftliche“ Überzeugung, im Wege der bloßen Deskription positiven Rechts normative, also objektiv verbindliche Aussagen ableiten zu können, zu Schlüssen vom Sein auf ein Sollen und damit zu naturalistischen Fehlschlüssen führt.[1] Das wirft, auch über die Rechtswissenschaft hinaus, für die Sozialwissenschaften die grundsätzliche Frage auf, ob und inwiefern die konsequente Trennung von Wirklichkeit und Wert einer „geisteswissenschaftlichen“ Ausgrenzung natur- oder kausalwissenschaftlicher Methoden entgegensteht. Oder, positiv gewendet, ob und inwiefern ein Sein-Sollen-Dualismus einen Methodenpluralismus unterstützt. Der oben skizzierte, nachkantische Wirklichkeitsbegriff bezeichnet eine historisch-soziale Wirklichkeit, die nicht nur eine Welt der empirischen Erscheinungen ist, sondern zugleich auch etwas Vernünftiges oder Sinnhaftes. Der starke Einfluss dieses Wirklichkeitsbegriffs auf die Sozialwissenschaften zeigt sich nicht zuletzt daran, dass in den Sozialwissenschaften häufig Begriffe verwendet werden, die ebenfalls nicht nur etwas Empirisches, sondern auch etwas Vernünftiges und damit Sinnhaft-Zweckgerichtetes bezeichnen. Das gilt etwa für die Begriffe „Kultur“, „Institution“, „Staat“ (bzw. „Staatsperson“), „Volk“ (bzw. „Volksgeist“, „Volksbewusstsein“, „Volkswillen“ etc.), „Klasse“ (bzw. „Klassenbewusstsein“), „Markt“, „Öffentlichkeit“ und „Gesellschaft“. Diese Aufzählung ist natürlich nicht abschließend; neben den bereits erwähnten Begriffen „positives Recht“ und „Rechtsquelle“ ließen sich noch zahlreiche weitere philosophische und sozialwissenschaftliche Grundbegriffe des 19. und 20. Jahrhunderts aufzählen. Genannt seien hier noch die Begriffe „Person“ und, in neuerer Zeit, „rational agent“ oder „rational agency“, soweit damit ein menschliches Vernunftwesen identifiziert wird, das nur in tatsächlicher sozialer Interaktion – und damit nur unmittelbar in und mit der Wirklichkeit – kausal sein kann. Diese Vorstellung vom menschlichen Vernunftwesen liegt nicht nur modernen Rechtsentstehungslehren und Demokratietheorien zugrunde, sondern, soweit erkennbar, auch den bereits erwähnten modell-, system- und handlungstheoretischen Auffassungen. Die genannten Begriffe bezeichnen also nicht nur etwas Empirisches, sondern auch etwas Vernünftiges und damit Sinngebendes oder Sinnhaftes. Sie werfen deshalb die Frage auf, ob sie gegen das Prinzip der Trennung von Sein und Sollen verstoßen. Diese Fragestellung ist für die Sozialwissenschaften von fundamentaler Bedeutung, denn der Grundsatz von der Trennung zwischen Sein und Sollen oder Wirklichkeit und Wert ist ein erkenntnistheoretisches Prinzip. Das heißt, dass dieses Prinzip doch gerade die Erkennbarkeit – und damit: die Existenz – von Gegenständen bestreitet, denen sowohl empirische Faktizität als auch eine vernünftige Wesenheit zugeschrieben wird. Daraus folgt dann die weitere Frage, ob die genannten Begriffe möglicherweise Dinge bezeichnen, die es gar nicht geben kann? Handelt es sich also in Wahrheit um begriffsrealistische Fiktionen, um apriorische (genauer gesagt: aprioristische) Wirklichkeitskonstruktionen, die, so verbreitet sie auch sein mögen, keine tauglichen Untersuchungsgegenstände abgeben können? Weiterhin zu fragen ist nach den Auswirkungen solcher Begriffsbildungen auf die Methodik und schließlich auf die Begründetheit der unter diesen Umständen erzielten Ergebnisse. Im Fokus steht damit auch und insbesondere die Problemlösungsfähigkeit der Sozialwissenschaften. Die „KOLLOQUIA Triesen“ will diesen Fragen nachgehen, die trotz ihrer grundlegenden Relevanz für die Sozialwissenschaften nur unzureichend untersucht sind. Dabei geht es aber nicht nur um Kritik am Bestehenden, sondern auch darum, Alternativen zu entwickeln. Das betrifft nicht zuletzt auch die – bereits unter I. angesprochene – Frage nach der Möglichkeit normativer Erkenntnisse, also (sozial-)wissenschaftlicher Aussagen über normative Grundsätze der sozialen Lebensführung und damit über den Wert des gesellschaftlichen Status quo. Die Sozialwissenschaften sollten diese Möglichkeit nicht vorschnell verneinen, denn der Verzicht auf normative Erkenntnis überlässt die Frage nach der Gestaltung des Gemeinwesens einem außerwissenschaftlichen Bekenntnis. Diesem außerwissenschaftlichen Bekenntnis würden die Sozialwissenschaften aber schließlich auch sich selbst überlassen, denn ihre Zuständigkeit beschränkte sich ja dann auf die Bestimmung von Mitteln zu beliebigen Zwecken, nämlich solchen Zwecken, die ihnen von außerwissenschaftlichen Mächten vorgegeben werden. Aber welcher wissenschaftliche Sinn kann eigentlich darin liegen, sich um die Bestimmung von Mitteln für einen Zweck zu bemühen, über dessen Wert sich wissenschaftlich nichts ausmachen lässt? Die Sozialwissenschaften können somit das Wertproblem nicht ignorieren. Aber der oben skizzierte, nachkantische Wirklichkeitsbegriff wird die Antwort auf die Frage nach dem Wert immer nur in der historischen Entwicklung der Gesellschaft selbst suchen, denn er fasst die historisch-soziale Wirklichkeit ja (auch) als ein Wertsystem auf. Unter diesen wirklichkeitstheoretischen Vorzeichen liegt, wie gesagt, der Ursprung normativer Aussagen stets in der sozialen Welt, also unmittelbar im Sein. Die methodische Konsequenz aus diesem Wirklichkeitsbegriff ist die moderne Hermeneutik, die auf der Überzeugung beruht, im Wege einer „(sinn-)verstehenden“ Deskription der Wirklichkeit normative Erkenntnisse ableiten zu können. Die fehlende – oder jedenfalls: unzureichende – Trennung von Wirklichkeit und Wert wird hier ganz deutlich, was zunächst die Frage aufwirft, ob und inwiefern hermeneutische Methoden überhaupt dazu in der Lage sein können, objektiv verbindliche bzw. gültige Aussagen zu begründen. Schon jetzt lässt sich aber zumindest vermuten, dass aus der konsequenten Trennung von Sein und Sollen die Forderung nach einer alternativen Begründung normativer Aussagen folgt. Diese Alternative wird insbesondere die schwierige Frage zu beantworten haben, ob und inwiefern sowohl kausalwissenschaftliche Erkenntnisse als auch philosophische Prinzipien in die Normbegründung einzubinden sind.
[1]Hans Albert, Rechtswissenschaft und Hermeneutik. Das Recht als soziale Tatsache und die Aufgabe der Jurisprudenz, in: Ars Interpretandi. Yearbook of Legal Hermeneutics 2 (1997), S. 237 (241 f. u. 246).