Überprüfung ungeschriebener Rechtsprinzipien
II. Die kritische Überprüfung von Rechtsbegriffen des positiven Rechts
Erläuterung:
1. Dieser Forschungsschwerpunkt schliesst unmittelbar an die hier getroffene Feststellungan, dass das positive Recht eine Vielzahl ungeschriebener Rechtsprinzipien enthält, deren Erkenntnis jedoch – nach der herrschenden Rechtstheorie – nur in deren wertungspassiver Entdeckung im positiven Recht bestehen kann. Nach herrschender Auffassung ist überhaupt alles wissenschaftlich erkennbare Recht, also die Rechtsordnung oder das Rechtssystem insgesamt, stets empirisch vorgegeben, was zur Konsequenz hat, dass Rechtserkenntnis bzw. Rechtswissenschaft nur darin bestehen kann, ein bereits bestehendes – wenngleich teilweise noch «verdecktes» – Rechtssystem sichtbar zu machen oder zu «(re)konstruieren».
2. Die – erkenntnis- und rechtstheoretische – Opposition, in der die hier geforderte Prinzipienlehre zur herrschenden Rechtstheorie steht, soll jetzt zum Anlass genommen werden, anerkannte Rechtsbegriffe oder ungeschriebene Grundsätze des positiven Rechts kritisch zu überprüfen. Das «Institut für Liechtensteinisches Recht und Rechtstheorie» steht, soweit erkennbar, mit dieser Forschungsfrage allein, da – wie ein kurzer Blick in die Lehrbücher zur «juristischen Logik» zeigt – die Besonderheiten der rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung gar nicht mehr hinterfragt werden. Das gilt insbesondere für die begriffstheoretischen Voraussetzungen der herrschenden Auffassung, dass alles Recht empirisch vorgegeben ist. Die Rechtsordnung erscheint dann als eine selbstständig existierende «Rechtswelt», als eine der Rechtswissenschaft exklusiv zugewiesene Wirklichkeitsparzelle, die sich, wie Fritz von Hippel einmal kritisch bemerkt hat, «nur noch unter quasi-naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten» wissenschaftlich bearbeiten lässt.
3. Die rechtstheoretische Konsequenz dieser Entwicklung besteht nicht etwa darin, dass die Rechtsordnung im Unterschied zum Naturrecht der Aufklärung jetzt keine vorgesetzlichen ‒ und damit: apriorischen oder metaphysischen ‒ Prinzipien mehr enthalten würde. Vielmehr ist die herrschende Rechtstheorie dadurch charakterisiert, dass diese Prinzipien ‒ jetzt häufig unter der Bezeichnung «Rechtsgrundsätze» oder «juristische Grundbegriffe» ‒ als vorgegebene und daher unveränderliche Eigenschaften des jeweiligen Rechtsinstituts gelten. Der apriorische (metaphysische) Charakter dieser Prinzipien bleibt deshalb verborgen, weil man sich ihren Entscheidungs- oder Wertungscharakter nicht bewusstmachen will, denn Rechtsprinzipien können ja nur dann als positives Recht erkennbar sein, wenn sie als bereits vorhanden vorgestellt werden und sich die Arbeit des Rechtsdogmatikers deshalb darauf zu beschränken scheint, sie rein deskriptiv zu erfassen. Rechtsprinzipien erscheinen dann nicht weiter begründungsbedürftig, denn sie sollen ja gerade keine (wertende) Entscheidung des Rechtsanwenders für einen bestimmten Rechtsinhalt darstellen, sondern vielmehr im Wege einer (analytischen, deskriptiven) Entdeckung einer im positiven Recht bereits vorgegebenen Wesenheit erkennbar sein. Für die Rechtswissenschaft ergibt sich aus diesem Befund die Notwendigkeit, sich zunächst den Entscheidungs- oder Wertungscharakter der rechtswissenschaftlichen Theoriebildung bewusst zu machen, um dann nach der Sachangemessenheit bzw. Interessengerechtigkeit der einzelnen, nicht selten bereits aus dem 19. Jahrhundert stammenden Rechtsgrundsätze oder juristischen Grundbegriffe zu fragen ‒ eine Aufgabe, zu der die neuere Rechtsgeschichte einen wesentlichen Beitrag leisten kann.
Leitung des Instituts für Liechtensteinisches Recht und Rechtstheorie (ILRR)
